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Folk-Sause: Kosaken, Hippies und ein Hauch von Woodstock

Foto: Masha Stahlberg

Ukrainische Folklore während der EM Mit Blumenkränzchen in den Kampf

Trachtenhemden und Folklorefestivals boomen im EM-Land Ukraine. Hinter der Renaissance des Brauchtums steckt ein politischer Konflikt. Der Westen des Landes sucht sich vom russischen Erbe abzusetzen - Präsident Janukowitsch aber will das Treiben lieber heute als morgen stoppen.
Von André Eichhofer

Wenn die Sommernächte am kürzesten sind, setzen sich in der Ukraine junge Frauen Kränze aus Blumen ins Haar, treten hinaus aus den Häusern und laufen hinab zu den Ufern von Flüssen und Seen. In der Iwana-Kupala-Nacht, dem slawischen Fest zur Sommersonnenwende, erhoffen sie sich einen Wink von Geistern und Göttern. An den Ufern angekommen, nehmen die Frauen die Kränze vom Haupt und legen sie auf das schwarze Wasser. Aus der Richtung, in der die Kränze treiben, sollen sie den zukünftigen Ehemann erwarten, so will es der Volksglaube.

Brauchtum und Folklorefestivals erleben seit Jahren einen Boom im Land des EM-Gastgebers Ukraine. Wenn der ukrainische Sänger Oleg Skrypka, in seiner Heimat eine Rocklegende wie in Deutschland Marius Müller-Westernhagen, am 22. und 23. Juni zum "Land der Träume"-Festival an die Ufer des Dnjepr-Flusses bei Kiew ruft, dann werden ihm Zehntausende Jugendliche dorthin folgen, mit Blumen im Haar und ukrainischen Volksliedern auf den Lippen. Dann wird sich auch Katja Gladka auf den Weg machen, eine 21-Jährige aus Kiew. Die Geschichtsstudentin mit den blonden Locken trägt selbst im Alltag auf dem Weg zur Vorlesung zu ihren stonewashed Jeans die Wyschywanka, ein Leinenhemd mit traditionellen Stickmustern.

Folklore und Nationaltrachten wie die Wyschywanka gelten vielen ukrainischen Jugendlichen als cool, Festivals wie Skrypkas "Land der Träume" boomen. Zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dient das Bekenntnis zu dem vor allem im Landeswesten verbreiteten Brauchtum und der ukrainischen Sprache der Abgrenzung vom sowjetischen Erbe - und vom russisch geprägten Osten des Landes. Präsident Wiktor Janukowitsch, selbst ein Spross aus der ostukrainischen Industriestadt Donezk und des Ukrainischen erst seit wenigen Jahren mächtig, möchte dem Treiben lieber heute als morgen ein Ende bereiten.

Bizarrer Mix aus slawischen Traditionen und Hippiekultur

Musiker Oleg Skrypka, 48, ist ein Veteran dieses Kulturkampfs. Der strohblonde Sänger ist Frontmann der Kultband "Wopli Widopljassowa" und machte sich schon zu Sowjetzeiten Feinde, weil er seine Songs nicht - wie von den Parteifunktionären gewünscht - auf Russisch sang, sondern konsequent auf Ukrainisch. Seit der Unabhängigkeit des Landes kämpft Skrypka nun gegen seichten Pop-Import aus Russland oder dem Westen und für mehr ukrainische Musik im Radio. Als 2004 der heutige Präsident Janukowitsch mit Wahlmanipulationen nach der Macht in der Ukraine griff, unterstützte Skrypka Wiktor Juschtschenko, einen der Helden der demokratischen Revolution in Orange und 2005 bis 2010 Präsident.

Skrypkas "Land der Träume" ist nur eines von vielen Folklorefestivals. Ende Juni, Anfang Juli bringen klapprige Mini-Busse bis zu 30.000 Besucher aus dem 80 Kilometer entfernten Kiew in das Dnjepr-Dörfchen Rschischtschew. Beim "Tripolskij Krug"-Fest mischen sich slawische Traditionen und Hippiekultur zu einem bizarren Mix. Yoga-Kurse werden zu ukrainischer Volksmusik angeboten, Hare-Krischna-Jünger summen Chakren, Hippies tanzen sich in Ekstase.

Die Regierung von Präsident Janukowitsch betrachtet die Spektakel mit Argwohn. Die unter Vorgänger Wiktor Juschtschenko gewährten staatlichen Zuschüsse wurden gestrichen. Dafür fördern ausländische Organisationen wie das Polnische Kulturinstitut oder die US-Botschaft die Veranstaltungen - was den Ärger der international isolierten Regierung in Kiew nur noch weiter schürt.

Das Janukowitsch-Lager wirft den Veranstaltern vor, sie förderten den Nationalismus und huldigten einem Faschisten. Auf den Festivals werden regelmäßig neben Töpferwaren und Holzpuppen auch T-Shirts und Aufkleber mit dem Bild des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera verkauft. Bandera kämpfte im Zweiten Weltkrieg für eine unabhängige Ukraine, paktierte dabei aber mit den Nazis. Im Westen des Landes gilt er als Nationalheld, im Osten dagegen als Kriegsverbrecher.

Erbitterter Kulturkampf zwischen Ost und West

"Die Ukrainer", sagt Rocksänger Skrypka, "sollen sich wieder auf ihre Traditionen besinnen." Ein erheblicher Teil der russischsprachigen Bevölkerung meint, darin aber eher Provokationen zu erkennen. Weil der Osten und der Westen nur wenige gemeinsame Traditionen teilen, spaltet die Brauchtumspflege das Land mehr, statt es zu einen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute in Donezk etwas mit unserem Fest anfangen können", sagt Jewgenija Strischewska, die das "Land der Träume" mitorganisiert.

Auch beim Thema Sprache kochen die Emotionen in der Ukraine regelmäßig über. Im Land zwischen Karpaten und Donbass ist Ukrainisch zwar noch die einzige Amtssprache, die jedoch nur 69 Prozent der Bevölkerung beherrschen. Seit Jahren versucht Janukowitschs Partei der Regionen, Russisch als zweite Amtssprache zu etablieren. Jüngst flogen bei einer Abstimmung über ein geplantes Sprachgesetz Ende Mai im Parlament die Fäuste. "Die Einführung von Russisch als zweiter Amtssprache", glaubt Rocker Skrypka, "würde Ukrainisch keine 30 Jahre überleben und aussterben."

Der Kulturkampf, in den auch in diesem Sommer Zehntausende Besucher von Festivals ziehen, ist härter und wird erbitterter geführt, als die verspielten Blumenkränze und Leinenhemdchen glauben machen. Er zeugt vom Ringen zweier Landesteile, die auch nach 20 Jahren nichts versöhnlich stimmen mag.

Wenn es Nacht wird über Skrypkas "Land der Träume", sammeln sich die Menschen um einen Hügel. In ihrer Mitte ragt dann eine große Strohpuppe empor, die mit einer Fackel in Brand gesteckt wird. Das Ritual soll böse Geister vertreiben - und viele, die am Feuer stehen, wünschen sich, der alte Bannsprüche möge auch Präsident Janukowitsch vertreiben und die Vormachtstellung der Ostukraine brechen.