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X FÜR UNBEKANNT

Können Röntgenuntersuchungen Krebs oder Schäden im Erbgut auslösen? Während die Zahl der Röntgenaufnahmen ständig wächst, warnen Experten vor Langzeitfolgen der Strahlendiagnostik - und vor übereifrigen Ärzten, die mit oft veralteten Geräten vielfach überflüssige oder unbrauchbare Röntgenbilder anfertigen.
aus DER SPIEGEL 32/1993

Der Kernphysiker Dirk Kramer, 51, gehört zu den Menschen, die stets ein Dosimeter bei sich tragen - der Mann hat beruflich mit radioaktiver Strahlung zu tun.

Jeden Morgen klemmt er das Gerät, das wie ein Füllfederhalter aussieht, an seinen Arbeitskittel. Abends schaut der Wissenschaftler auf der kleinen Anzeige nach, welche Strahlenbelastung ihm der Tag gebracht hat.

Gewöhnlich ist das Meßergebnis negativ, bei seinen Experimenten mit radioaktiven Materialien achtet der Forscher auf strengen Strahlenschutz. Vor einiger Zeit jedoch zeigte sein Dosimeter einen alarmierenden Wert - Kramer war beim Arzt gewesen.

Nach einem Sportunfall hatte er sich den Daumen röntgen lassen und dabei, aus reiner Neugier, den Strahlenzähler neben die Hand gelegt: Die Zeiger schnellten auf 10 Millirem (röntgen equivalent man), eine Maßeinheit, mit der die Wirkung von radioaktiver und Röntgenstrahlung auf den menschlichen Organismus gemessen wird. Kramer staunte. Denn was, laut Gesetz, ein _(* An der Uni-Kinderklinik in Essen. ) Bundesbürger schlimmstenfalls im Laufe von vier Monaten an radioaktiver Strahlung aus deutschen Kernkraftwerken abbekommen darf (erlaubte Jahresbelastung: 30 Millirem), das hatte sich der Freizeitsportler im Krankenhaus in einem Sekundenbruchteil zugezogen - als Strahlendosis aus der Röntgenröhre.

Dabei war der Physiker mit seinem verstauchten Daumen einer vergleichsweise geringen Röntgenbelastung ausgesetzt worden. Wenn die Mediziner Bauch- oder Beckenaufnahmen anordnen, Lungen durchleuchten oder Schichtbilder vom Schädel schießen, wird der Organismus mit weit größeren Strahlenmengen bombardiert.

Ob Speiseröhre oder Verdauungstrakt, Gallenblase oder Gebärmutterhals - was immer die Röntgenkamera aus dem verborgenen Organsystem eines Patienten sichtbar macht, stets haben Millionen und Abermillionen kleine Blitze das menschliche Gewebe durchbohrt. Für die jeweils vom Röntgenkegel erfaßten Körperteile können dabei schnell Strahlendosen zwischen 1000 (bei einer Wirbelsäulenaufnahme) und 4000 Millirem (bei einer Mammographie) zusammenkommen.

Die Superkamera der medizinischen Diagnostik stellt nicht nur ein unverzichtbares Hilfsmittel bei der Fahndung nach Knochenbrüchen, Krankheitsherden und Krebsgeschwülsten dar. Nach Einschätzung des Marburger Nuklearmediziners Horst Kuni müssen die Röntgenstrahlen auch als »sehr potente Krebsauslöser« betrachtet werden.

In den menschlichen Keimzellen kann die energiereiche Strahlung überdies genetische Schäden anrichten, die sich erst bei Kindern und Kindeskindern auswirken. Vermutlich, so hatte ein Gelehrtengremium von der amerikanischen Akademie der Wissenschaften schon vor 40 Jahren prophezeit, werde »die Wirkung der Röntgenstrahlen künftigen Generationen mehr Sorge bereiten als die Versuche mit Atom- und Wasserstoffbomben«.

Nicht Atombombenversuche, nicht kosmische Strahlung, Kernkraftwerke oder der Fallout aus dem Unglücksreaktor von Tschernobyl verursachen in den Industrieländern den Hauptanteil der Strahlenbelastung.

Die größte Strahlengefahr für die Gesundheit geht in Deutschland von den weit mehr als 50 000 medizinischen Röntgengeräten aus. Doch während in kerntechnischen Anlagen jedes Strahlenquantum bilanziert werden muß, wird in der Medizin nicht festgehalten, wie oft ein Patient im Röntgenschußfeld saß. Nach Schätzungen von Experten belasten die Geräte jeden Bundesbürger, vom Säugling bis zum Greis, mit einer jährlichen Strahlendosis von 120 bis 200 Millirem. Seit fünf Jahren gibt es zwar einen dem Impfpaß vergleichbaren Röntgenpaß - doch nur die wenigsten Patienten besitzen dieses Dokument, das »freiwillig geführt« wird.

Die gesundheitlichen Folgen der massenhaften Röntgenbelastung kennt niemand. Sicher ist nur, daß sehr hohe Strahlendosen, wie etwa bei der Strahlentherapie von Krebskranken, das Körpergewebe erheblich schädigen - was bei der Tumorbehandlung Ziel der Therapie ist. Wie fatal sich die Strahlen bei einer Überdosierung auswirken können, zeigte sich jetzt an der Hamburger Uniklinik: Eine Darmkrebspatientin starb, 50 weitere leiden unter schweren Nebenwirkungen, weil der Strahlentherapeut sie mit zu hohen Einzeldosen beschossen hatte.

Im Gegensatz zur Strahlentherapie galt die Röntgendiagnostik stets als völlig harmlos - womöglich ein leichtfertiger Irrtum?

Beamte des niedersächsischen Sozialministeriums hegen seit geraumer Zeit den Verdacht, daß Leukämiefälle bei Kindern, die im Städtchen Sittensen nahe Hamburg vermehrt aufgetreten waren, auf häufiges Röntgen zurückgehen könnten - zwei mittlerweile verstorbene Kinder waren bis zu 16mal durchleuchtet worden.

In Stuttgart starb ein Krankenpfleger an einem Krebsleiden, das er sich nach den Recherchen der Behörden mit hoher Wahrscheinlichkeit durch häufigen Kontakt mit Röntgenstrahlen zugezogen hatte. In Kiel debattierten, Anfang vorigen Jahres, internationale Wissenschaftler eine »Neubewertung des Strahlenrisikos«. Auch unter Medizinern wird die Frage immer heftiger diskutiert: Erhöht Röntgen die Krebsgefahr?

Ein heikles Thema - vor allem in Deutschland. Denn die deutschen Ärzte sind, zusammen mit ihren französischen Kollegen, Weltmeister im Röntgen. Nicht nur in den Kliniken, auch in 15 000 Kassenpraxen wird jährlich ein Millionenheer von Patienten durchleuchtet. Drei Milliarden Mark pro Jahr zahlen die Kassen für die Fotos aus dem Leibesinneren.

Nach einer Untersuchung des Bundesamts für Strahlenschutz werden allein in Westdeutschland jährlich über 88 Millionen Röntgenaufnahmen angefertigt. Binnen zwölf Monaten wird jeder Bundesbürger durchschnittlich 1,4mal geröntgt; Engländer landen nur halb so oft unterm Röntgenschirm. Weltweit werden die Deutschen nur von den Japanern übertroffen (siehe Grafik Seite 161).

Doch während in Japan gut 40 Prozent der Röntgen-Checks Zahnuntersuchungen sind, bei denen nur kleine Körperpartien im Strahlengang der Durchleuchtungsapparatur liegen, sorgt der deutsche Hang zur Gründlichkeit für eine hohe Rundumbelastung - dem Hausarzt gilt die Röntgenröhre noch immer als Wunderwaffe.

So werden Lungenentzündungen im Verlauf der Genesung immer wieder am Röntgenschirm kontrolliert, innerhalb weniger Wochen kommen dabei einige Dutzend Brustbilder von einem Kranken zusammen. Klagt ein Patient über Kopfweh, ist eine Schädelaufnahme fällig. Soll er narkotisiert werden, wird er zuvor fast routinemäßig zur Thoraxdurchleuchtung geschickt.

Viele Krankenhäuser lassen Neuzugänge auf Lungenleiden untersuchen - ohne ein frisch entwickeltes Negativ kommt der Patient oft gar nicht ins Krankenbett. Arbeitgeber verlangen von Bewerbern häufig ein ärztliches Attest, am liebsten in Form eines Röntgenfotos. Kleinkinder, die auf Strahleneinwirkung besonders sensibel reagieren, werden nach einem Sturz oft völlig unsinnigerweise am Kopf geröntgt; einziger Zweck: Ruhigstellung der Eltern.

Die Begeisterung der Ärzte für die Röntgentechnik hat nicht nur medizinische Gründe. Nach der ärztlichen Gebührenordnung wird die Behandlung mit Apparaten besonders üppig honoriert. Röntgenfachärzte, die Berufsfotografen _(* Anlegen eines Herzkatheters. ) unter den Medizinern, erwirtschaften ein Bruttojahreseinkommen von durchschnittlich 280 000 Mark und verdienen damit fast doppelt soviel wie ein Allgemeinarzt.

Um an dem Geldsegen teilzuhaben, stellen sich auch Orthopäden, Internisten oder Urologen gern einen Röntgenapparat in die Praxis. Speziell dort werden die Patienten in vielen Fällen unter uralte Röntgenröhren gezwängt.

Mehr als die Hälfte der in Betrieb befindlichen Geräte, ergab eine Untersuchung des Zentralverbandes der Elektronikindustrie (ZVEI) zu Jahresbeginn, sind über zehn Jahre alt, ihre »technisch und wirtschaftlich vertretbare Lebensdauer«, so der ZVEI, sei häufig »deutlich überschritten«.

Mit nachgerade museumsreifen Diagnose-Geräten wurden vor allem die Bewohner der DDR jahrzehntelang traktiert, wenn auch aus Mangel an Geräten nur halb soviel geröntgt wurde wie in Westdeutschland.

Ärzte-Pioniere, die gleich nach der Wende in ostdeutschen Krankenhäusern Aufbauhilfe leisteten, berichteten von schier unglaublichen Zuständen. Der Berliner Mediziner Mathias Langer erinnert sich: »Ich dachte, ich werd'' nicht mehr.«

Am Uni-Klinikum Jena fand Langer Bleischürzen vor, in denen die schützenden Bleiplättchen in den Saum hinabgerutscht waren und »wie eine Wurst am Knie hingen«. Das Mammographie-Gerät war schrottreif, einzelne Röntgen-Aufnahmeplätze wurden nur »durch eine spanische Wand aus Stoff« von anderen Untersuchungsräumen getrennt - Gardinen als Strahlenschutz.

Doch auch in Westdeutschland stehen noch viele betagte Apparate herum. Mal klemmt die Kassettenlade, mal schlackert der Dreharm. Um die nachlassende Leistung wettzumachen, wird voll aufgedreht. Dabei leidet die Qualität der Ablichtungen: Die Filmstreifen sind nicht selten überschwärzt oder verwackelt, Flecken, Flusen und Dreckpartikel auf der Folie können vermeintliche Gallensteine, Zysten oder Tumoren vortäuschen.

»Da ist häufig nur Schneegestöber«, klagt Gerd Reuther, Radiologe in der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden, über die Röntgenbilder von überweisenden Kollegen. Bernhard Götz, Leiter der Ärztlichen Stelle in Frankfurt, einer Kontrollkommission der hessischen Ärzteschaft, die über die Qualität der Röntgenaufnahmen wacht, berichtet: »Bei technischen Prüfungen haben wir in 80 Prozent der Fälle Beanstandungen.«

Mittlerweile haben die Wissenschaftler begonnen, über Nutzen und Nachteile der Röntgendiagnostik nachzudenken. Makaber anmutende Rechnungen werden angestellt. So schätzt der Münchner Strahlenbiologe Albrecht Kellerer, bei einer von 20 000 Belichtungen mit einem älteren Gerät sei statistisch eine tödlich verlaufende Krebserkrankung zu erwarten - als Folge der Röntgenschädigung.

Weniger dramatisch klingt die Einschätzung des Essener Strahlenbiologen Christian Streffer: Durch die Röntgendiagnostik, meint er, werde »die normale Krebshäufigkeit nur um etwa ein Promille erhöht«.

Solche Zahlenspiele sind kaum beweisbar - aber auch nicht widerlegbar. Denn selbst im 98. Jahr seit Entdeckung der Röntgenstrahlen ist noch immer nicht zuverlässig erforscht, was die Energiebündel, die Haut, Knochen und sogar Stahl durchdringen, womöglich selbst in kleinsten Portionen im menschlichen Organismus anrichten können.

Mit der »Radiodiagnostik« müsse äußerst vorsichtig umgegangen werden, warnte der inzwischen verstorbene Münchner Radiologe Helmut Fendel schon vor Jahren. Der Beschuß mit ionisierender Strahlung stelle »immer auch eine Körperverletzung dar«.

»X-Strahlen« hatte der Würzburger Professor Wilhelm Conrad Röntgen seine Entdeckung im November 1895 benannt ("x« für unbekannt). In einem Glaskolben hatte der Physiker Elektronen erzeugt und sie unter Hochspannung gesetzt, so daß die winzig kleinen Energiebällchen mit hoher Geschwindigkeit auf den Pluspol prallten.

Beim plötzlichen Abbremsen im Moment des Aufpralls entstand Wärme; zugleich sandten die Elektronen eine neue Art von Strahlung aus - eben die X-Strahlen. Als Amateurfotograf hatte Röntgen bald die enorme Strahlkraft des neuartigen Superlichts erkannt: Er hielt die Hand seiner Frau über eine Fotoplatte im Strahlenfeld, die erste Röntgenaufnahme entstand.

Die bahnbrechende Erfindung, für die Röntgen den Nobelpreis erhielt, revolutionierte nicht nur die Medizintechnik. Von der Blütenkontrolle bei der Kripo bis zur Durchleuchtung von Schweißnähten an den Rohrleitungen in Kernkraftwerken - die Röntgentechnik ist aus der neuzeitlichen Materialprüfung nicht wegzudenken.

Am bedeutendsten aber war zunächst die Anwendung in der Heilkunst. Anfangs hielten die Mediziner ihre Röntgenröhre noch per Hand über den Patienten. Um die Jahrhundertwende gab es schon festinstallierte Strahlenkanonen in sogenannten Röntgen-Kabinetten; sie wurden von einem marmornen Schaltbrett aus gesteuert. Eilten die Radiologen der ersten Stunde auf Hausbesuch, hatten sie eine eigens für diesen Zweck konstruierte tragbare Glühröhre in ihrem Instrumentenkoffer.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Röntgen-Boom richtig los. Vor allem im Kampf gegen die damals grassierende Tuberkulose wurden die Strahlenmaschinen eingesetzt. Bildschirmwagen fuhren über Land, in einigen Bundesländern wurden die Bewohner zur Lungendurchleuchtung verpflichtet.

Zwar waren schon Mitte der fünfziger Jahre die Massenuntersuchungen kaum mehr zu rechtfertigen - so entdeckten die bayerischen Gesundheitsfahnder 1956 unter 84 897 zwangsdurchleuchteten Kindern ganze zwei Fälle von offener Tbc. Dennoch wurden noch bis Mitte der achtziger Jahre Hunderttausende Jahr für Jahr durch die strahlenintensiven Bildschirmwagen geschleust.

Auch sonst blieb der Glaube an die tollen Röntgenkräfte lange ungebrochen. Die X-Strahlen wurden als kosmetisches Enthaarungsmittel angepriesen; in vielen Schuhgeschäften fand sich ein hüfthoher Holzkasten, eine Attraktion für alle Kinder: Durch ein in den Deckel gesägtes Guckloch konnten sie ihr Fußskelett bestaunen.

Vor knapp 20 Jahren wurden die Kästen per Gesetz verboten. Die darin installierten Röntgenröhren waren nicht einmal mit einem Bleimantel ausgerüstet, der die kleinen Benutzer wenigstens vor der gröbsten Streustrahlung geschützt hätte.

Was in jenen Jahren der unkritischen Röntgen-Begeisterung womöglich an Strahlenschäden ausgelöst wurde, die unbemerkt zu Krebserkrankungen oder genetischen Veränderungen geführt haben könnten, sei bis heute nicht abschätzbar, meint Nuklearmediziner Kuni: »Das wird sich logischerweise erst im Jahr 2000 demaskieren.«

Der lange übliche Leichtsinn ist um so erstaunlicher, als schon die Röntgenpioniere unter oft tödlichen Langzeitschäden gelitten hatten. Vor dem Hamburger St.-Georg-Krankenhaus erinnert ein Gedenkstein mit einigen Hundert Namen an die »Märtyrer der Röntgen-Diagnostik«. Ganz oben steht der Name von Heinrich Albers-Schoenberg, der zu den Begründern der medizinischen Röntgenologie in Deutschland zählt.

Während seiner Versuche zur Entwicklung von neuen Diagnoseverfahren hatte der Arzt die Hände häufig ungeschützt im Strahlengang gehabt. Erst entwickelte sich an seinem rechten Mittelfinger ein Strahlenkarzinom, dann mußte ihm der linke Arm amputiert werden. Jahre später, 1921, starb Albers-Schoenberg qualvoll an seinem Krebsleiden.

Ähnlich erging es, nicht lange her, einem Krankenpfleger des Stuttgarter Olga-Hospitals. In der orthopädischen Klinik hatte er Tag für Tag Knochenbrüche einzugipsen - unter dem Durchleuchtungsschirm. Nach fünf Jahren waren Zeige- und Mittelfinger von Hautkrebs befallen, bald entwickelten sich Metastasen; vor zwei Jahren starb der Mann.

Recherchen der Behörden ergaben, daß auf die Hände des Pflegers alljährlich eine Strahlendosis von etwa 56 Rem niedergegangen war. Erlaubt sind 5 Rem pro Jahr für Klinikmitarbeiter, die im Strahlenschutzbereich tätig sind - der Verstorbene war mithin einer mehr als zehnmal höheren Belastung ausgesetzt. Offenbar, so ergaben Nachforschungen, hatte er kein Meßgerät zur Kontrolle der Strahleneinwirkung benutzt.

Mit dem Tod des Gipspflegers beschäftigt sich inzwischen die Staatsanwaltschaft. Hinter dem Fall steckt jedoch ein weitverbreitetes Strahlenschutzproblem. Bei bestimmten Operationen, wenn beispielsweise ein Herzkatheter gesetzt wird, müssen Ärzte und Schwestern längere Zeit unter der Röntgenlampe hantieren. Dabei kann es vorkommen, daß die »Hände pausenlos im Strahlengang« sind, wie eine Krankenhausmitarbeiterin berichtet.

Solche Operationen erfordern viel Fingerspitzengefühl; da sind die klobigen Bleihandschuhe, die zum Schutz übergestreift werden sollten, nur hinderlich: Die Operateure und ihre Helfer arbeiten lieber mit bloßen Händen.

Eine gewisse Kontrolle bieten spezielle Dosimeter, die wie ein Fingerring zu tragen sind. Doch deren Anzeige, sagt Lucia Voegeli-Wagner, Röntgen-Referentin im Hessischen Arbeitsministerium, sei bei solchen Operationen »ruck, zuck bis zum Anschlag« ausgereizt. Der Eindruck der Beamtin: »Die legen die Dinger deshalb gar nicht gern an.«

Was ionisierende Strahlung so gefährlich macht, ist ihre Fähigkeit, Elektronen aus Bio-Molekülen herauszuschlagen. Unzähligen klitzekleinen Pfeilen gleich durchsausen die Röntgenstrahlen im Augenblick der Aufnahme die jeweils anvisierte Körperpartie. Dabei treffen im Zentrum des Strahlenkegels härtere (energiereiche) Strahlen auf, die den Körper vollständig durchdringen. An der Peripherie liegen weichere, sogenannte Streustrahlen, die im Gewebe steckenbleiben - sie machen den Hauptanteil der Strahlenbelastung aus.

Im Organismus lösen die Streustrahlen eine folgenreiche Kettenreaktion aus: Von der gewaltigen Energieladung des Röntgenlichts werden aus den Molekülen des menschlichen Zellgewebes einzelne Elektronen mitgerissen.

Dabei können im Zellkern Molekülbausteine auseinanderfallen mit dem Ergebnis, daß es zu Chromosomenbrüchen und anderen Schäden im Erbgut kommt (siehe Grafik Seite 167). Auf diese Weise entstehen unter anderem auch die sogenannten dizentrischen Chromosomen, Erbinformationsträger, die sich charakteristisch verformt haben - unter dem Mikroskop erinnert ihre Form an ein eingewickeltes Lutschbonbon. Werden solche Chromosomen im Zellgewebe nachgewiesen, gilt dies als starkes Indiz für eine Strahlenschädigung.

Die möglichen Veränderungen in der Zelle reichen von verstärkter Enzymproduktion bis zur tödlichen Zellschädigung. Je höher die Strahlendosis, desto schlimmer die Schäden.

Doch auch bei minimalen Strahlenmengen läßt sich nicht ausschließen, daß eine normale Körperzelle in eine Krebszelle verwandelt wird. Wenn menschliche Keimzellen geschädigt wurden, sind Veränderungen an der Erbsubstanz möglich, die erst in der nächsten Generation zum Vorschein kommen.

Besonders anfällig sind auch solche Gewebsarten, die eine hohe Rate von Zellteilungen aufweisen, etwa die Mundschleimhäute, Lymphdrüsen oder das blutbildende Knochenmark: Im Augenblick der Teilung sind die Zellen weit verletzlicher als im Ruhezustand.

Schneller als jedes gesunde Gewebe aber können sich Krebszellen teilen - energiereiche Strahlung zerstört sie daher noch gründlicher als normale Zellen. Diesen Umstand haben sich die Mediziner bei der Tumorbehandlung zunutze gemacht.

Um die Zerstörung der Krebszellen noch zu beschleunigen, werden sie mit hohen Dosen besonders harter Röntgenstrahlen beschossen, die in einem eigens für solche Zwecke konstruierten Gerät, einem Linearbeschleuniger, erzeugt werden. Häufig werden auch radioaktive Quellen wie Kobalt 60 oder Cäsium 137 eingesetzt.

Für die Patienten ist die Strahlentherapie in vielen Fällen eine Tortur. Die Quälerei soll helfen, die Kranken von einem Karzinom zu heilen oder zumindest das Lebensende hinauszuschieben. Manchmal kommt es anders.

In Hilden bei Düsseldorf fiel vor einigen Jahren eine Radiologenpraxis auf, in der, so die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft, vermutlich 140 Krebspatienten mit einer viel zu starken Kobalt-Bestrahlung traktiert wurden. Die Überdosis war Folge eines Berechnungsfehlers, etwa 70 Patienten starben bald nach der Behandlung.

Im Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) waren zwischen 1987 und 1990 etwa 150 Darmkrebspatienten mittels Röntgenstrahlen behandelt worden; bei beinahe der Hälfte der Kranken entwickelten sich schwere Entzündungen im Unterleib, schmerzhafte Blutungen stellten sich ein; bei vielen schrumpften Blase und Darm, in schlimmen Fällen mußten künstliche Ausgänge gelegt werden.

Zwar waren in Hamburg die in der Summe verabreichten Strahlenmengen nicht überhöht, doch Professor Klaus-Henning Hübener, Leiter der Strahlentherapie am UKE, hatte die einzelnen Tagesdosen (mit bis zu 1000 Rem) so hoch angesetzt, daß die Patienten sie nicht mehr verkraften konnten. Als die Folgen der mörderischen Kur in diesem Sommer bekannt wurden, entbrannte eine Debatte über die medizinischen Standards der Strahlentherapie (siehe Interview Seite 166).

Mitte letzter Woche wurde Hübener vom Amt suspendiert; die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Zwar war die grausige Therapie schon vor drei Jahren eingestellt worden. Doch bis zuletzt behaupteten die Kliniker, von einer gefährlich erhöhten Nebenwirkungsrate nichts gewußt zu haben.

Dabei war die in Hamburg praktizierte Form der Bestrahlung gerade wegen der heftigen Nebenwirkungen schon Anfang der achtziger Jahre an fast allen Kliniken verworfen worden. Dennoch schob Hübener die Regler hoch - wohl getrieben von einer »tödlichen Hybris« (Die Zeit): Aufgrund der »unbefriedigenden« Behandlungsergebnisse beim Enddarmkrebs, sagt der Strahlentherapeut heute, habe er sich zur »Überbehandlung« entschlossen, deren biologische Wirkung er »unterschätzt« habe.

Geheimnistuerei herrscht bis heute auch im ostdeutschen Halle, wo sich, vor rund 20 Jahren, der vielleicht schlimmste Strahlenskandal ereignete. An der dortigen Uniklinik waren zwischen 1969 und 1972 rund 400 tumorkranke Frauen mit extrem hohen Strahlendosen behandelt worden - wie aus einem später verfaßten Bericht hervorgeht, handelte es sich offenbar um eine Art Forschungsreihe.

Die bekam den Patientinnen schlecht. 145 erlitten schwerste Nebenwirkungen. Bei 45 Frauen konnten die Ärzte bereits ein halbes Jahr später die Krankenakte schließen: »Letaler Ausgang.«

In einer 1974 verfaßten internen Niederschrift berichteten die Hallenser Mediziner lapidar, die Todesfälle seien »im ursächlichen Zusammenhang oder als Komplikation nach Bestrahlungsbehandlung« zu sehen. Immerhin: »Aufgrund der geschilderten Erfahrungen« veranlaßten die Ärzte »eine Korrektur unserer Bestrahlungsmethoden«.

Schwerstfolgen wie in Hamburg, Halle oder Hilden sind beim Röntgen nicht zu erwarten; dennoch kam es auch dabei mitunter zu ernsten Zwischenfällen, wie beispielsweise aus einer britischen Studie hervorgeht: Unter den Kindern von Frauen, die während der Schwangerschaft geröntgt worden waren, fanden die Forscher erheblich mehr Leukämiefälle als in einer Vergleichsgruppe.

Kinder, besonders Neugeborene, haben einen sehr viel intensiveren Stoffwechsel, ihre Zellen teilen sich weit häufiger. Deshalb reagieren sie bis zu sechsmal empfindlicher auf ionisierende Strahlung als Erwachsene.

Darauf nahmen die Röntgenologen bis vor kurzem wenig Rücksicht - auch in der niedersächsischen Gemeinde Sittensen: Ein kleiner Junge wurde innerhalb von zwei Jahren 9mal durchleuchtet, ein Mädchen 16mal innerhalb von acht Jahren - beide sind mittlerweile an Leukämie gestorben.

Nach ihrem Tod inspizierten Rechercheure im Auftrag des niedersächsischen Sozialministeriums die Praxis der behandelnden Ärztin und untersuchten gesunde Kinder, die ebenfalls häufig bei der Orthopädin geröntgt worden waren.

Das Ergebnis: Mit ihrer schrottreifen Röntgenkanone hatte die Ärztin ihren kleinen Patienten unnötig hohe Strahlenmengen verabreicht. Auf den Röntgenfotos waren stets größere Körperpartien abgebildet als erforderlich, viele Bilder wiesen Unschärfen auf.

Eine überflüssige Röntgenbelastung wie in Sittensen wollen behördliche Gesundheitsaufseher in Zusammenarbeit mit den Kassenärztlichen Vereinigungen mittels verschärfter Qualitätskontrollen künftig vermindern. Nachdem Anfang 1987 eine neue Röntgenverordnung in Kraft getreten war, wurden Zug um Zug Kontrollstellen eingerichtet, in denen die von den Kassenärzten geschossenen Röntgenbilder gesichtet und überprüft werden.

Bislang bieten die Befunde der Kontrolleure keinen Anlaß zur Entwarnung. In Niedersachsen ergab eine Überprüfung von Röntgenbildern der Magenregion, daß zwei Drittel der Aufnahmen für eine Diagnose nur bedingt oder überhaupt nicht brauchbar waren.

In Hessen wurden im vergangenen Jahr fünf Praxen wegen eklatanter Mängel geschlossen. »Wir müssen noch durchs Grobe durch«, bekennt Bernd Goetz von der ärztlichen Kontrollstelle.

In der Vergangenheit hatte niemand daran Anstoß genommen, daß die Zahl der Röntgenaufnahmen von Jahr zu Jahr wuchs. Obgleich Massenuntersuchungen etwa aus Gründen der Tuberkulose-Prophylaxe erheblich zurückgingen, wird heute doppelt so häufig geröntgt wie vor 40 Jahren. Auch Alternativen zur Strahlendiagnostik, wie Ultraschalluntersuchung oder Kernspintomographie, haben die gute alte Röntgenkamera bislang nicht verdrängen können (siehe Kasten Seite 162).

Zwar wurde die pro Röntgenaufnahme benötigte Strahlenmenge dank verbesserter Techniken seit den Nachkriegsjahren erheblich reduziert. Das Problem der ständig wachsenden Strahlenbelastung dürfte damit allerdings kaum zu lösen sein.

In Praxen und Kliniken breiten sich derzeit die hochmodernen Nachfolger der alten Röntgengeräte aus - Computertomographen. Scheibe für Scheibe durchsieben die rechnergesteuerten Riesenröhren den Patientenkörper mit Röntgenstrahlen.

So niedrig die Strahlenbelastung bei jedem einzelnen Schichtbild auch liegen mag, die Summe der Strahlendosis übersteigt das Quantum bei konventionellen Röntgenaufnahmen - »etwa um den Faktor sieben«, schätzt Alfred Bäumel vom Bundesamt für Strahlenschutz.

Rund 1000 Computertomographen arbeiten inzwischen in Deutschland; das sind 2 Prozent aller Röntgengeräte. Sie produzieren 17 Prozent der gesamten Strahlenmenge. Y

Die deutschen Ärzte sind Weltmeister im Röntgen

Mal klemmt die Kassettenlade, mal schlackert der Dreharm

»Bei 20 000 Aufnahmen entsteht eine tödliche Krebserkrankung«

Kinder sind sechsmal strahlenempfindlicher als Erwachsene

Zwei Drittel der Bilder sind nur bedingt oder gar nicht brauchbar

[Grafiktext]

_161_ Strahlenbelastung einzelner Körperteile bei

Röntgenuntersuchungen

_____ / Durchschnittswerte für Patienten mit ca. 70 kg Körpergewicht

_167b Wirkung von Röntgenstrahlen auf Körperzellen

_168_ Mittlere jährliche Strahlenbelastung durch Strahlenquellen

_____ / (natürliche und zivilisatorische Strahlenquellen)

[GrafiktextEnde]

* An der Uni-Kinderklinik in Essen.* Anlegen eines Herzkatheters.

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