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Geschichte Christopher Clark

„Besessen von der deutschen Kriegsschuld“

Mit seinen neuen Thesen zum Kriegsausbruch 1914 provoziert der britische Historiker Christopher Clark heftige Debatten. In Potsdam stellte er sich seinen Kritikern – mit erstaunlichem Ergebnis.
Freier Autor Geschichte
Die Europäer zogen nicht nach einem festen Plan, sondern wie Schlafwandler oder Spieler in den Ersten Weltkrieg – mit dieser These sorgt der Historiker Christopher Clark seit Wochen für Furore (das Foto zeigt britische Rekruten im August 1914) Die Europäer zogen nicht nach einem festen Plan, sondern wie Schlafwandler oder Spieler in den Ersten Weltkrieg – mit dieser These sorgt der Historiker Christopher Clark seit Wochen für Furore (das Foto zeigt britische Rekruten im August 1914)
Die Europäer zogen nicht nach einem festen Plan, sondern wie Schlafwandler oder Spieler in den Ersten Weltkrieg – mit dieser These sorgt der Historiker Christopher Clark seit Woche...n für Furore (das Foto zeigt britische Rekruten im August 1914)
Quelle: picture alliance / akg-images

Historiker wetzen keine Messer. Aber sie legen sich geharnischte Argumente bereit, wenn sie gegen ihresgleichen in den Kampf ziehen. So war es auch vor dem Besuch des berühmten Gastes in Potsdam. Im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, in dem ihr Militärgeschichtliches Forschungsamt mittlerweile aufgegangen ist, wurde Christopher Clark erwartet. Sein Buch „Die Schlafwandler“ (DVA) ist der historische Bestseller der Saison, die sechste Auflage ist im Druck, seine Antwort auf die Frage, „wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“, füllt Säle. Auch in Potsdam, der Höhle des Löwen. Denn hier erwarteten den Cambridge-Professor Spezialisten, die ihr Leben einschlägigem Aktenstudium gewidmet haben.

Fünf namhafte Kollegen auf dem Podium versuchten, von der Orthodoxie zu retten, was zu retten ist. Als herrschende Meinung gilt hierzulande, dass Deutschland zwar nicht schuldig, wohl aber hauptverantwortlich für den Ausbruch des Krieges war, von dem eine direkte Linie in den Zweiten Weltkrieg und in den Kalten Krieg führte. Ob er denn seine Gegenthese auf einen Punkt bringen könne, wird Clark gefragt. „Nein. Das ist die Antwort.“

Der Mann mit australischem Pass urteilt nicht, sondern beschreibt, was in den Jahren vor und Wochen nach den Todesschüssen von Sarajewo passiert ist. In London, Belgrad, St. Petersburg, Berlin, Paris oder Wien. Am 1. August seien sie in Berlin fröhlich gewesen, es nur mit Frankreich und Russland zu tun zu haben, wird als Beleg deutschen Risikospiels angeführt. Clark hält mit ähnlichen Glücksbezeugungen über ein gelungenes Spiel in Paris, London und St. Petersburg dagegen.

Mit Charme und rhetorischem Florett

Die Deutschen wussten, dass ihre Politik in einem großen Krieg münden konnte, wird ihm entgegen gehalten. Aber sie wussten nicht, was das für ein Krieg werden würde, sagt Clark. Deutschland war verantwortlich für die strukturellen Vorbedingungen des Krieges, heißt es. Aber diese mussten 1914 nicht zum Krieg führen, argumentiert Clark. Alle wichtigen Akteure trugen ihren Teil dazu bei, weil sie die Komplexität der Krise nicht erkannten.

Mit Charme und rhetorischem Florett erwehrt sich Clark seiner Kontrahenten. Diese stellen die entscheidende Frage erst am Schluss: Ob er keine Angst habe, dass sein Buch als Balsam für die deutsche Seele verstanden werden könne. „Nur in Deutschland wird mir vorgeworfen, ich wäre deutschfreundlich“, entlarvt Clark die deutsche Nabelschau.

Nicht nationale Narrative seien geeignet, die viel zitierte Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu begreifen, sondern eine europäische Erzählung. In Europa begann der Erste Weltkrieg, hier lagen seine wichtigsten Schlachtfelder. Und nur ein multipolarer, ein europäischer Blick vermöge die Spielzüge der Akteure verständlich zu machen. Das Publikum applaudiert euphorisch, und die Diskutanten ergeben sich. „Besessen von der deutschen Kriegsschuld“ habe man die europäischen Perspektiven aus dem Blick verloren, gibt einer zu Protokoll.

Es wäre schön, wenn die Vertreter diverser Bundesministerien, die es bis nach Potsdam geschafft hatten, dieses Plädoyer ihren amtierenden und künftigen Dienstherren rapportierten. Denn die Sprach- und Ideenlosigkeit, mit der die Bundesregierung die Vorbereitung zu den 100-Jahr-Feiern des Krieges bislang begleitet, ist so borniert wie peinlich.

Der Australier Christopher Clark (Jg. 1960) lehrt Modern European History an der Universität Cambridge
Der Australier Christopher Clark (Jg. 1960) lehrt Modern European History an der Universität Cambridge
Quelle: picture alliance / dpa

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