THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 28 - 2014 GESELLSCHAFT 07.07.2014

 

Elend mit System: Ungarn verarmt unter Orbán immer weiter

87.510.- Forint im Monat, umgerechnet rund 280.- Euro, das bezeichnet in Ungarn heute die Armutsgrenze. Umgerechnet auf das Preis- und Einkommensäquivavlent von 2010 leben heute 4,8 Mio. Menschen, also grob jeder zweite Bürger an bzw. unter dieser Grenze. Vor 4 Jahren waren es noch, bzw. auch schon 3,7 Millionen. Die Orbán-Regierung kann sich nicht mehr auf irgendwelche fremdgemachten Krisen herausreden. Sie steuert das Land offenen Auges ins Elend, für das Heil Einiger...

Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Wurst essen...
Premier Orbán auf seinem Landsitz in Felcsút...

Dass der oben benannte Grenzbetrag, - man kann in Wahrheit selbst vom Doppelten geradeso überleben - von Statistikern einigermaßen willkürlich mit "40% weniger als das Medianeinkommen" festgelegt wurde, aber noch deutlich über den rund 66.000 Forint liegt, die Beziehern des gesetzlichen Mindestlohnes netto übrig bleiben und bereits über 200.000 Menschen durch die Kommunalen Beschäftigungsprogramme sogar noch unter dem Gesetz stehen, weil ihnen nicht einmal der gesetzliche Mindestlohn zusteht, belegt die Art der Wertschätzung, die die Regierung Orbán ihrer Unterschicht zuteil werden lässt.

Den Anstieg der "nominalen Armut" von rund 10 Prozentpunkten binnen einer Regierungsperiode eruierte das Umfrageinstitut Tárki in einer repräsentativen Befragung, denn das Statistische Zentralamt, KSH, gibt seit 2010 keine Zahlen mehr zur "Armut" heraus, von dort kommen nur noch die monatlichen Jubelmeldungen zum Arbeitsmarkt und der Melonenproduktion (geht aufwärts!) sowie
anderer grober mathematischer Unfug.

Schuld an der Entwicklung ist nicht Orbán allein, natürlich handelt es sich um Folgen der Lehman-Krise und der sich daraus entwickelnden sozialen, ökonomischen und letztlich gesellschaftlichen Verwerfungen. Es sind Folgen auch eines atem- und teilweise hirnlosen Verständnisses von "Integration" der neuen EU-Mitglieder, Folgen des Primats der Wirtschaft über die Politik, wie es der EU - zu ihrer eigenen Gefahr - immernoch wesenseigen ist.

Doch wie man mit den Folgen der Wildost-Zeit in den vergangenen Jahren umging, schlug sich durchaus zählbar nieder. So ist Ungarn das einzige Land der Visegrád 4 (HU, PL, SK, CZ) wo auch
laut Eurostat die Verarmung im Schnitt der vergangenen vier Jahre permanent anstieg. Sogar Rumänien weist eine bessere Performance - freilich auf elendigem Niveau - auf. In der Slowakei, Tschechien und in Polen sinkt der Anteil der "An der Armutsgrenze"-Lebenden stetig, wenn auch sehr langsam.

 

Was hat Ungarn anders gemacht? Zu sagen, es habe sich schlicht "versteuert", greift daneben, denn hinter der Entwicklung steckt der durchaus konsequent exekutierte Plan von ständisch eingestellten Planern und Vollstreckern, die eine leistungsfähige Ober- und obere Mittelschicht, eine durch Angst und Verlockung gezähmte Zwischenschicht und eine durchaus breite Unterschicht als "Arbeitsgesellschaft" definieren und daraus ein "Zukunftsmodell", ja sogar den "Wachstumsmotor der Region" fantasieren und bereits offen damit gedroht haben, dass Europa bald dem "ungarischen Modell" folgen wird.

Zusammengefasst sieht das so aus: 90% der Steuerersparnisse durch die Flat tax (16% auf alle Einkommen) kamen dem oberen Einkommensdrittel zu Gute, das wiederum - so es unternehmerisch tätig ist - auch noch von den - zumindest in einigen Segmenten - verbesserten Körperschaftssteuern profitierte und daher auch die schweigend genießende Machtstütze Orbáns blieb, die er sich erwartete, obwohl die Arbeitskosten und -bürokratie nicht wirklich unter Kontrolle ist.

Umgekehrt gerechnet: die rund 900 Milliarden Forint fiskale Mehrbelastung bzw. Umverteilung, die in Ungarn jährlich anfällt - vor allem für Schuldendienst, Ausgleich für die Ausfälle aus der Einkommenssteuer, Nationalisierungen und diverse national-konservative Hobbys und Sonderwünsche von Fußballstadien, über Museumsquartiere, die Förderung der Trianongebiete bis hin zu zwei neuen Atommeilern, diese Mehrbelastung wurde "gerecht verteilt": Sondersteuern für einige Branchen sowie die Anhebung bzw. Neuerfindung von Verbrauchssteuern (im Doppeldutzend). Es ist natürlich eine Binsenlogik, dass ein um 1 Euro teureres Nahrungsmittel (auf dem in Ungarn 20-27% Mehrwertsteuer liegen!) für alle gleich viel teurer wird, den 280.- EUR-Empfänger aber schmerzt, während es der Überdurchschnittliche nicht einmal bemerkt. Das ist die soziale Gerechtigkeit eines Untertanenstaates. Die empirische Nachricht, dass fast die
Hälfte der Familien in Ungarn Probleme bei der Nahrungsbeschaffung hat, ist da nur logisch

Die Kürzung der Bezugsdauer und der Höhe von Arbeitslosengeld, die - sagen wir es vorsichtig - mittelstandsorientierten Forex-Kredit-Ablösemodelle, zuletzt die Steuersparmodelle für Familien mit Kindern (die nur greifen, wenn es Steuern ab einer bestimmten Höhe zu reduzieren gibt), all diese Maßnahmen sortierten das Unten-Mitte-Oben-System immer gründlicher. Am Ende fing man die Draufzahler mit - in Summe gesehen - ein paar unverschämten Krümeln über die Energiepreissenkungen und blumiger Propaganda wieder auf. So einfach war das. Wirkliche Jobs hat man keine, aber Angst vor "den Linken". Geht doch. In der Zwischenzeit pachten die Fidesz-Bonzen noch ein paar hundert Hektar Land und lassen es von Brüssel subventionieren.

Aktuellstes Beispiel der Charade: der heldenhafte Kampf der Regierung, die mit den
Forex-Gesetzen eine "Ära des gerechten Bankwesens" einläutet und die Banken entsprechend hart rannimmt. Kapitalismuskritiker aller Coleur mögen angesichts der realen Auswirkungen ihre Freudentränen noch zurückhalten. Es sei denn sie sehen die Retrokutsche vom Imperialismus in den Feudalismus als zivilisatorischen Fortschritt an. Nicht die Schulden sind der Ungarn wirkliches Problem, sondern die mangelnden Einkommen und damit der fehlende Ausweg.

Die Banken werden jetzt sturmreif geschossen, auf das auch diese Branche noch unter die Kontrolle der Fidesz-Kraken gerät. Die Zinsen werden weiter kassiert, nicht abgeschafft. Auf Dauer sind Tabakläden und Landwirtschaft einfach nicht einträglich genug. Hätte die Orbán-Regierung eine andere Finanzpolitik gefahren oder ihre Protagonisten an der richtigen Stelle einfach einmal die Klappe gehalten, dann läge der Schuldenstand - aufgrund eines stärkeren Forint - um bis zu 20% tiefer.

Im aktuellen Konvergenzprogramm, also jenem Pionierehrenwort, das Budapest mit auf dem Rücken gekreuzten Fingern alle halbe Jahre an Brüssel abliefert, versprach man zuletzt weitere Einsparungen in Höhe von 600 Mrd. HUF, also rund 1,85 Mrd. EUR oder 2% des BIP - im Sozialsystem, wörtlich: in der sozialen Wohlfahrt. Angeblich kamen solche Forderungen bisher immer vom IWF, der "ungarische Familien angreift". Doch, da man den nun aus dem Land geschmissen hat, weil man lieber 3,5 statt 2% Zinsen zahlt, dafür aber laut "Freiheitskampf" rufen kann, muss nun die EU als Sündenbock für die eigenen Sünden herhalten. Keine neue und schon gar keine ungarische Taktik, aber immer wieder effizient und daher gern genommen.

Eine weitere aktuelle Idee aus der nationalen Schatzkiste unserer Regierung: höhere Renten für Eltern mehrerer Kinder. Das ist eine prima Idee: Qualifizierte Berufsanfänger sind ja so leicht zur Zeugung möglichst vieler kleiner Magyaren zu motivieren, vor allem, wenn sie überhaupt in Ungarn einen Job in ihrem Beruf finden, mit Gehältern jenseits aller Schmerzgrenzen auskommen müssen und durch das neue Arbeitsrecht als eine Art Bürger-Sklaven-Mischwesen dahinvegetieren - oder eben gehen, wie mindestens eine halbe Million - vor allem junger - Menschen seit 2010. Wer durchhält, den erwarten mit 70+ 5-6% mehr Rente, von der natürlich kein seriöser Ökonom heute schon sagen, wie hoch die sein wird und wenn den Aspiranten nicht vorher schon Gevatter Tod eingesammelt hat.

Möglicherweise reicht die Pension dann noch für ein paar Leckereien unterm Weihnachtsbaum der Enkel, die, wenn sie Glück haben, nicht zu der ebenfalls anwachsenden Gruppe von Kindern gehört, die häufig bis regelmäßig Hunger leiden. Die Schätzungen verlaufen hierbei
in Bereichen von 25.000 bis 80.000, als "nicht adäquat ernährt" gelten 250.000 Kinder in Ungarn, natürlich mit einem höheren Anteil bei den Roma.

 

Schuld daran trägt u.a. die planlose Gleichmacherei der Kommunisten, der Vermehrungsliberalismus der Sozi-Regierungen, die mehr auf Masse, statt auf Klasse achteten. Auch das wird jetzt anders: Superminister Balog hat schon einmal klar gemacht (Link zu Pusztaranger), dass man in der Sozialpolitik “einen Unterschied machen (muss) zwischen problematischen Familien und solchen, die fähig sind, den Staat (durch Steuern) mitzutragen”. Darum gibt es nun auch zwei unabhängige Staatssekretariate: eines für Leistungsempfänger und eines für diejenigen, die “Ungarn auf ihren Schultern tragen”. Brave Bürger und Schmarotzer. Magyarische. Denn für "Zigeuner" gibt es nochmal ein eigenes Staatssekretariat und eigene Regeln. Versteht sich.

An all diesen Erscheinungen und Entwicklungen in Orbáns Ungarn lässt sich ein durchgängiges Muster erkennen: Menschen sind für ihn von Geburt an ungleich, sie sind in einer menschengemachten und - behauptet - gottgewollten Ordnung gefangen, ihrem Schicksal zugeteilt. Orbán führt sein Land vom gescheiterten Kapitalismus zurück in den - teilindustrialisierten - Feudalstaat - zynisch und aus voller Überzeugung. Wer das einmal erkannt hat, wundert sich zumindest weniger über seine nächsten Schritte.

cs.sz. / m.s. / red.

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